Arme Stadt - Reiche Stadt
Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln

Saal Dacca, Kasteelstraat 74, B-9140 Temse (bei Antwerpen)
3. August bis 1. September 2013
geöffnet samstags von 14 bis 18 Uhr, sonntags von 10 bis 12 Uhr und 14 bis 18 Uhr
Eröffnung am Freitag, 2. August 2013, 20 Uhr
Finissage am Samstag, 31. August 2013, 14 Uhr
im Rahmen der Ausstellung "Soziale Fotografie - Bilder, die bleiben" (Sociale Fotografie - Beelden die blijven)

Ausstellung in Temse/Belgien
Saal Dacca in Temse, 2. August 2013

Drei Worte... (zur Eröffnung)

im Namen des Bundesverbandes Arbeiterfotografie bedanken wir uns sehr herzlich für die Einladung, an dieser Ausstellung teilzunehmen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir mit unseren belgischen Freunden zusammenwirken – das zeigt auch die Beteiligung am Arbeiterfotografie-Jahresprojekt „Realität der Arbeit“, das hier zu sehen ist.

Öffentlichkeit ist für unsere Wirkungsabsicht mit sozialer Fotografie eine ganz wesentliche, eine unverzichtbare Komponente. Mit unseren Bildern kämpfen wir gemeinsam gegen eine immer gigantischer gewordene Medienindustrie an, die sich auch sozialer Themen bemächtigt. Aber meist ist es so, dass sozial Schwache für ihre Lage allein verantwortlich gemacht werden, dass sie so dargestellt werden, als ob sie die Gesellschaft ausnutzen. Menschen werden gegeneinandergehetzt, ohne den Ursachen - nämlich eine zunehmende Schieflage in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums - auf den Grund zu gehen. Das wollen wir mit unseren Bildern tun: die Systemfrage stellen.

Warum ist es so, wie es ist? Außerdem wollen wir (mit Bert Brecht) zeigen, dass es auf uns ankommt, die Gesellschaft mitzugestalten. Sie umzugestalten. Die (in Deutschland sogenannten) Reformen, die langjährige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Kinder und Rentner gleichermaßen in die Armut stoßen – sie verursachen Existenzängste und auf beiden Seiten (arm und reich) eine psychisch kranke Gesellschaft. Wir wollen weniger Gier und mehr Gerechtigkeit, aber keine Almosen.

Die Auswirkungen des Neoliberalismus spüren wir alle. Er begann heute (am 11. September) vor 40 Jahren in Chile mit dem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Allende, der den Kindern Milch versprochen hatte. In einem Blutbad installierten die Chicago Boys um Milton Friedman das erste Reallabor des Neoliberismus, das heute längst in Europa angekommen ist. Und nicht nur in Griechenland, sondern in unseren Straßen und Städten... Unser Gemeinschaftseigentum (Schulen und Krankenhäuser, Immobilien, Kompetenzen) wandert in die Hände gieriger Reicher, die nie zufrieden sein werden.

Darum wollen wir zeigen, was nicht hinnehmbar ist. Wir wollen zeigen und überzeugen, dass wir als Gesellschaft gute Lebensbedingungen brauchen. Mit Bildern wollen wir überzeugen, das bedeutet Menschen über ihre Gefühle zu berühren, sie zu treffen und betroffen machen, ihnen ein Bewußtsein über die Situation zu verschaffen, sie zur Mitwirkung anregen. Unsere Mittel der Gestaltung, der Mit- und Um-Gestaltung sind die Kunst, die Fotografie. Sie sind unser Werkzeug und unsere Waffe.

(Anneliese Fikentscher und Senne Glanschneider, Bundesvorstand Arbeiterfotografie, Temse/Antwerpen, am 2. August 2013)


Ausstellungshalle, Bürgerzentrum Alte Feuerwache, Melchiorstraße 3, 50670 Köln
4. bis 7. November 2010, geöffnet täglich von 16 bis 20 Uhr und nach Vereinbarung

Ausstellung in Köln
Ausstellungshalle des Bürgerzentrums Alte Feuerwache in Köln, 4. November 2010
Festakt am 6. November 2010 mit Werner Rügemer - Enthüllung des Armutszeugnisses für Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters - verbunden mit einer Laudatio für den Ersten Bürger der Stadt


Laudatio von Werner Rügemer, interventionistischer Philosoph, anlässlich der Verleihung des „Ersten Kölner Armutszeugnisses für den Ersten Bürger der Stadt“ Jürgen Roters, Kölner Oberbürgermeister, im Rahmen der Aktionstage „Arme Stadt – Reiche Stadt“ der „Arbeiterfotografie Köln“, Alte Feuerwache, Köln, 6. November 2010


Sehr geehrter Herr abwesender Oberbürgermeister Jürgen Roters!

Wir verleihen Ihnen als dem sogenannten ersten Bürger der Stadt heute das erste Kölner Armutszeugnis.

Sie würden vielleicht, wenn Sie es gewagt hätten, hier zu erscheinen, fragen: Warum ausgerechnet ich als erster? Sie haben in gewissem Sinne durchaus recht. Das Armutszeugnis hätten vor Ihnen gewiß auch schon andere verdient.

Wir könnten dabei insbesondere an den Gründer des modernen Kölner Klüngels denken, den ehemaligen Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Er beispielsweise ließ durch die Stadtpolizei die Arbeitslosen gnadenlos entfernen, die vor seiner 14-Zimmer-Villa in der Lindenthaler Max-Bruch-Straße demonstrierten, damals zum Ende der Weimarer Republik, als es auch viele Arbeitslose gab, in Köln und in Deutschland. Der Politchrist Adenauer, der die Bankiers von Oppenheim zu seinen besten Freunden zählte, griff auch schon mal in die Stadtkasse, um sich vom Kämmerer der Stadt, der sein Schwager war, einen Aktienkauf finanzieren zu lassen. Als er in der Endphase der Weimarer Republik auch die Privilegien seiner Freunde bedroht sah, gab er in der Lindenthaler Villa seines Freundes, des Bankiers Kurt Freiherr von Schröder, der NSDAP die Zusage, dass seine allerkatholischte Partei, das Zentrum, einen Reichskanzler Hitler tolerieren werde.

So schlimm wie der Adenauer von der christlichen oder unchristlichen Partei bin ich doch bei weitem nicht, könnten Sie sagen, Herr gegenwärtiger Oberbürgermeister Roters. Ich habe mich nicht, könnten Sie sagen, aus der Stadtkasse bedient. Ich habe keine Arbeitslosen vor meiner Villa von der Polizei vertreiben lassen, selbst dann nicht, als ich Kölner Polizeipräsident war. Ich habe gar keine Villa mit 14 Zimmern. Ich habe auch Hitler keine Zusage gemacht. Insoweit hätten Sie, Herr gegenwärtiger Oberbürgermeister, durchaus recht.

Für das Armutszeugnis könnten wir auch sehr wohl an andere Ihrer Vorgänger denken, solche, die zu Ihrer Partei gehörten. Zum Beispiel an einen gewissen Norbert Burger. Der Vielbeschäftigte hatte fünf verschiedene Einkommen – als Oberbürgermeister, als Landtagsabgeordneter, als Beamter im einstweiligen Ruhestand, als Rechtsanwalt und als Mitglied im Aufsichtsrat mehrerer Unternehmen. Und trotzdem oder gerade deswegen dachte er an die Armen , wenn er bei den Reichen mit am Tische saß. Denn er hatte immer Angst um seine Wiederwahl, denn er war ein Sozialdemokrat, der zwar nicht unbedingt die abhängig Beschäftigten und die Schwachen vertrat, aber ihre Wählerstimme haben wollte, weil er keine anderen kriegte. Der Oberbürgermeister Burger rief damals, 1994, zum „Aufstand der Städte“ auf, weil sie durch die Bundesregierung immer weniger Geld bekamen. Gleichzeitig zog er Kürzungen durch - schon damals haben christliche und sozialdemokratische Oberbürgermeister bei Sozialausgaben gekürzt. Und es gab mit ihm dann doch keinen Aufstand. Nach der Ausrufung des Aufstandes ging der Oberbürgermeister Burger in einen anderen Stand über, nämlich in den Ruhe-Stand. Seitdem bedient er sich mit seinen mehreren Pensionen aus den verschiedenen Staatskassen.

Auch da könnten Sie, Herr gegenwärtiger Kölner Oberbürgermeister, sagen: So schlimm wie mein sozialdemokratischer Parteigenosse und Vorgänger Burger bin ich doch gar nicht. Ich habe doch gar keine fünf Einkommen, höchstens mal einen Beratervertrag, einen einzigen. Und ich rufe doch gar nicht zum Aufstand der Städte auf!

Auch da haben Sie durchaus recht. Auf Ihren Beratervertrag kommen wir noch. Aber wir müssen Ihnen das erste Kölner Armutszeugnis trotzdem verleihen. Auch deshalb übrigens, darauf kommen wir auch noch, weil Sie nicht zum Aufstand der Städte aufrufen.

Sie haben sich zum Amt des Oberbürgermeisters aus freien Stücken gedrängt. Sie wußten, dass Ihre sozialdemokratische Partei in Koalition und Kumpanei mit Grünen und christlich lackierten Millionärs- und Milliardärsvertretern den Grundstock für die neuerliche Armut und die zusätzliche Verarmung des Staates, der Bundesländer und der Städte gelegt hat.

Sie sagten: „Die heftigen Einsparungen sind notwendig wegen der Finanzkrise.“ Das ist natürlich Quatsch, verzeihen Sie diese eindeutige Kennzeichnung. Erstens geht es nicht um Einsparungen, sondern um Kürzungen. Zweitens: Sie blenden Ursachen und Verursacher aus. Ihre Partei und deren Bundesfinanzminister und Ihr Bundeskanzler haben die Spekulanten in Deutschland erst richtig losgelassen. Drittens: Und nicht die Finanzkrise macht die Kürzungen nötig, sondern die Rettung der bankrotten Banken. Gekürzt wird wegen der zehn Milliarden Euro für die bankrotte Düsseldorfer Bank IKB, bei der kein einziger Bürger ein Konto hat. Oder wegen der Milliarden für die bankrotte Westdeutsche Landesbank, die sich mit Cross Border Leasing und anderen dubiosen Finanzprodukten verspekuliert hat und die auch von der KölnBonner Stadtsparkasse mit Ihrem Einverständnis gestützt wird.

Sie sagten: „Es darf nicht sein, dass eine Kluft entsteht, zwischen Stadtvierteln, die wohlhabender sind und anderen Stadtvierteln, in denen sich soziale Probleme ballen. Wir brauchen einen sozialen Ausgleich. Den will ich schaffen durch eine moderne Bildungspolitik mit Chancengleichheit für alle, mit einer modernen Wohnungsbaupolitik und durch soziale Projekte, die mit dazu beitragen, dass wir ein soziales, gerechtes System hier in unserer Stadt haben.“ Das haben Sie in Ihrem Wahlkampf um das Amt als Oberbürgermeister im letzten Jahr versprochen. Aber erstens ist die Kluft zwischen den Stadtvierteln schon längst entstanden, zwischen arm und reich, zwischen Köln-Kalk und Köln-Marienburg zum Beispiel. Zweitens können Sie mit der Partei, in der Sie sind, gar keine Chancengleichheit herstellen, das hat diese Partei bewiesen. Drittens war natürlich schon bei Ihrem Wahlkampf klar, dass Sie mit der politischen Konstellation, für die Sie stehen, kein soziales und gerechtes System in unserer Stadt herstellen können. Mit den von Ihnen verantworteten gegenwärtigen Haushaltskürzungen verschärfen Sie das soziale Unrecht. Da wird Ihre nette Verkündung guter Absichten zum Täuschungsmanöver, zum Wählerbetrug.

Sie sagten: „Wir müssen die Einsparungen gerecht auf alle Bürgerinnen und Bürger verteilen.“ Nachdem die große Ungerechtigkeit durchgezogen wurde, soll es nun für die vielen Betroffenen, die die Zeche der Bankrotteure zahlen müssen, gerecht zugehen. Die Reichen und die geretteten Bankrotteuere müssen nichts abgeben. Aber der Arbeitslose soll etwas abgeben genauso wie der Leiharbeiter und die Noch-Beschäftigte, der Student ebenso wie der Schüler und die Rentnerin. Und die Ärmsten müssen am allermeisten abgeben: Den Arbeitslosen wird das Kindergeld gekürzt, das Elterngeld gekürzt, der Zuschuss zur Rentenversicherung gekürzt.

Sie bewegen sich, Herr gegenwärtiger und abwesender Oberbürgermeister, innerhalb des herrschenden Tabus, dass die Misere des Staates und der Städte nur durch Sparen, Sparen, Sparen behoben werden könne. Sie wagen nicht das Tabu zu brechen und die einzige wirkliche Lösung auch nur auszusprechen, dass nämlich Staat und Städte neue Einnahmen brauchen, und zwar Steuern von dort, wo das große Geld sitzt, die Gewinne, die Vermögen, die großen Einkommen, die noch nie in der Geschichte Deutschlands und der Stadt Köln so hoch waren wie heute.

Sie kritisierten scharf die Beraterverträge der Stadtsparkasse Köln für die CDU-Politiker Bietmann und Müller. Das ist ein „Beutemachersystem“, sagten Sie. Recht haben Sie. Später kam heraus, dass auch Sie selbst einen Beratervertrag der Sparkasse Köln bekommen und für das sachlich nutzlose und inhaltlich überholte Gutachten ein Honorar von 35.000 Euro abgegriffen haben. Sie rechtfertigten sich wie Ihre christlich-unchristlichen Kollegen Bietmann und Müller: Ein solcher Beratervertrag sei „ein normaler Vorgang“.

Mit den Reichen und Investoren, die der Stadt und den Bürgern schaden, sind Sie auf normalem Kuschel- und Klüngelkurs. In Ihrer Zeit als Kölner Regierungspräsident genehmigten Sie die dubiosen Cross Border Leasing-Verträge, die von der Deutschen Bank eingefädelt wurden und mithilfe derer die Städte Köln, Bonn und andere ihre Kanalisationen, Messehallen und Straßenbahnen an US-Banken verkauften. Dabei wurden Steuern hinterzogen und Darlehensverträge weiterverkauft. Diese Transaktionen gehören zu den Ursachen der Finanzkrise.

Auch mit den Chefs der Bank Oppenheim und des Esch-Oppenheim-Immobilienfonds haben Sie sich eingelassen. Sie genehmigten als Regierungspräsident den Vertrag für die neuen Messehallen. Er verschafft den sozialschädlichen Reichen wie Madeleine Schickedanz, Thomas Middelhoff und Matthias Graf von Krockow Gewinnausschüttungen und hohe Steuervorteile und bürdet der Stadt Köln eine überhöhte Miete auf. Sie, Herr Oberbürgermeister, sind Teil des für die Stadt so schädlichen Kölner Klüngels. Und Sie sind nicht in der Lage, sich selbst daraus zu befreien. Sie haben bisher nicht einmal deutlich werden lassen, dass Sie sich daraus überhaupt befreien wollen. Erst die Aktivität von Bürgern und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes haben den Messehallen-Vertrag als ungültig erwirkt. Gottseidank waren Bürger wach und erfolgreich!

Sie sagten in Ihrer Bewerbung um das Amt des Oberbürgermeisters: „Wir müssen an die Bürger ran.“ „An die Bürger ran“ - das klingt ohnehin schon etwas sehr komisch, finden Sie nicht, Herr abwesender Oberbürgermeister? Als hätten Sie doch irgendwo hinten ein halbes Bewußtsein, dass Sie ziemlich weit von den Bürgern entfernt sind. So haben Sie sich gegen die Bürgerbewegung gestellt, die den Abriß des Schauspielhauses und das viel teurere Prestigeprojekt eines Neubaus verhindern wollte. Für solche Prestigeobjekte des Kölner Klüngels gilt Ihr gleichmäßiges und gerechtes Sparen also nicht. Auch hier Gottseidank wurden Bürger gegen Sie aktiv und haben sich gegen Sie durchgesetzt.

Mit Ihrer Zustimmung gelten seit dieser Woche für die Kölner Museen neue Eintrittspreise, sie wurden auf einen Schlag um 17 Prozent erhöht. Wallraf-Richarz Museum 7 statt 5,80 Euro bzw. beim ermäßigten Preis 4 Euro statt 3,30 Euro; Museum Ludwig 10 statt 9 Euro, ermäßigt 7 statt 6 Euro; Römisch-Germanisches Museum 5 statt 4,30 Euro, ermäßigt 3 statt 2,70 Euro. Ran an die Bürger? Diese Preise bedeuten: Weg mit immer mehr Bürgern aus den Museen! Auch dort, wo Bürger besonders aktiv sind, in sozialen Projekten und in der freien Kulturszene, haben Sie für weitere erhebliche Kürzungen gesorgt.

Sie, Herr gegenwärtiger Oberbürgermeister, vertreiben die Arbeitslosen nicht durch die Polizei, sondern durch Preiserhöhungen und Haushaltskürzungen. Sie greifen nicht für sich selbst in die Stadtkasse, aber Sie lassen dubiose Investoren viel tiefer in die Stadtkasse greifen.

Sehr geehrter Herr abwesender Herr Oberbürgermeister, Sie sind, soweit wir das in der Öffentlichkeit sehen können, ein netter Mensch, ein korrekter Beamter. Sie lächeln viel, wenn Sie rangehen an Bürger und Kameras und Mikrofone. Deshalb bekommen Sie in unserem Armutszeugnis für Betragen zur Belohnung auch ein „Noch ausreichend“.

Aber heute reicht es nicht aus, ein netter Mensch und ein korrekter Beamter zu sein, wenn man Mensch bleiben will. Wer Mensch bleiben will und das erreichen will, was Sie gelegentlich als Absicht verkünden, nämlich ein soziales und gerechtes System zu verwirklichen, der muss sich lösen von den bornierten, egoistischen, zynischen Interessen einer Minderheit von Bankern, Immobilienhaien, vermögenden Steuerhinterziehern, dubiosen Investoren und von ihren Mittätern und Mitläufern in Politik, Wissenschaft und Medien.

Es reicht nicht, wenn Sie, Herr Oberbürgermeister, Gewerkschafter und Vertreter von Bürgerinitiativen einmal zu einer netten Beratung einladen. Es reicht nicht, die Bürger per Internet und email im sogenannten Bürgerhaushalt weitere Vorschläge für „gerechte“ Kürzungen machen zu lassen. Nein, ein Oberbürgermeister heute muss das organisieren, was Ihr Vorgänger Burger nur demagogisch verkündet und nie gemacht hat, nämlich einen Aufstand der Städte, vor allem einen Aufstand der Städter. Das hat es früher sogar schon mal in Köln durchaus gegeben.

Ein verantwortlicher Oberbürgermeister, der nicht nur bei Gelegenheit an die Bürger „rangeht“, sondern immer für sie und mit ihnen da ist, muss die Gewerkschafter, die Wohlfahrtsverbände, die Bürgerinitiativen, die Parteien, die Arbeitslosen, die Schüler, die Rentner, die ganze Bevölkerung zu öffentlichen Versammlungen aufrufen. Öffentliche und wiederholte Versammlungen vor dem Rathaus, vor dem Dom, vor der Deutschen Bank, vor der Industrie- und Handelskammer, vor der Stadtsparkasse, vor den Betrieben. Um zum Widerstand zu ermutigen, um Druck zu erzeugen, um die einfachen, naheliegenden Alternativen durchzusetzen.

Weil Sie das alles nicht tun, weil Sie die große Ungerechtigkeit der Reichen und Spekulanten dulden und das Unrecht unter die Armen verteilen, verarmen Sie unsere Stadt. Weil Sie den Rücken beugen vor den ungerechten Mächtigen und den Spekulanten. Sie verarmen unsere Stadt nicht nur finanziell, sondern auch moralisch und geistig. Sie verarmen die städtische Demokratie. Die schlimmste menschliche Armut ist es, Unrecht hinzunehmen, zu rechtfertigen, durchzusetzen.

Vielleicht, vielleicht machen Sie all das nicht freiwillig, wie so viele Bürger heute, die gefangen sind im Gehäuse ihrer Hörigkeit, in Partei- und Vorstandsfunktionen und profitablen Beraterverträgen und Beamtenstellen. Aber wenn Sie selbst sich daraus nicht befreien können, dann lassen Sie sich von den Bürgern Ihrer Stadt aus Ihrem Gefängnis befreien.

Deshalb heißt es im ersten Kölner Armutszeugnis, verliehen an den gegenwärtigen und zugleich abwesenden Kölner Oberbürgermeister, Herrn Jürgen Roters, noch nicht: „durchgefallen“. Das ist in einem Halbjahreszeugnis, das wir Ihnen jetzt überreichen, ohnehin nicht möglich, selbst wenn die Noten das nahelegen. Das Schuljahr ist noch nicht zuende. Deshalb heißt es in einem letzten Aufbäumen unseres pädagogischen Optimismus nur
    „Versetzung stark gefährdet“.
Ich weiß nicht, ob wir uns mit diesem pädagogischen Optimismus strafbar machen. Die Bürger sind bereit und geduldig, aber die Geduld ist nicht endlos. Und notfalls werden wir ohne und gegen unseren Oberbürgermeister handeln, handeln müssen. Herr gegenwärtiger und abwesender Oberbürgermeister, Sie werden dem Armutszeugnis nicht entkommen. Wenn Sie es nicht selbst gut verwahren, wir werden es tun!

Werner Rügemer, 6.11.2010

Am 6. November 2010 enthülltes "Erstes Kölner Armutszeugnis für den ersten Bürger der Stadt"