Wer eigentlich sind Sie? - Gestatten: Arbeiterfotografie Anneliese Fikentscher, Februar 2006 Frühjahr 2005. In der neuen US-amerikanischen Zeitschrift 'n + 1' für Literatur und Politik erscheint ein Artikel von Alexander Kluge über die sogenannte Nato-Sicherheitskonferenz in München. Bilder einer Polizeikette von außen und des 'tanzenden Kongresses' von innen tragen die Autorenangabe: arbeiterfotografie.com. - Eine finnische Gewerkschaftszeitung bittet um Zusendung von Fotos aus dem Arbeitskampf der Beschäftigten der Kone-Rolltreppen-Werke, Hattingen. Bildanfragen kommen aus der Schweiz (comedia...), Belgien (Solidaire...), Großbritannien (Socialist Worker...), von deutscher Gewerkschaftspresse, Buchverlagen. Selten: Financial Times, Fernsehsender (Premiere) - öfter: Schulbücher-, Jahrbücher-, Stadtführer-, Plattencover-, Kalender-, Kundenzeitschriften-Redaktionen und Werbeagenturen werden fündig im Reportage-Angebot auf der website von Arbeiterfotografie. Sozialistische, christliche und anarchistische Initiativen und deren Publikationen, Studenten-, Mitmach-, Obdachlosenzeitungen nutzen das Bildangebot regelmäßig für wenig bis gar kein Geld. Ist die heutige, 1978 als Bundesverband gegründete und sich auf die historischen Vorgänger von 1927 beziehende Arbeiterfotografie eine Fotoagentur? „...Arbeiterfotografie ist eine Waffe der Zeit. Sie entnimmt ihre Motive der sozialen Gegenwart, berichtet über den politischen Kampf und sucht ihn durch die anklagende Aufzeigung der furchtbaren Wirkungen der kapitalistischen Wirtschaftsanarchie zu steigern. ...“ schrieb der Bild- und Umbruchredakteur (1928-33) der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, AIZ, und spätere (ab 1929) Präsident der Vereinigung der Arbeiterfotografen Deutschlands, Hermann Leupold, 1931 im Vereinsorgan 'Der Arbeiterfotograf'. 1) Wir knüpfen an. Die Fotos von den sozialen Auseinandersetzungen der 1980er und folgenden Jahre, wie sie im Ende der 1990er Jahre entstandenen Internetangebot (mit 375 000 Seitenabrufen im Januar 2006) zu finden sind, 'entnehmen ihre Motive der sozialen Gegenwart, und berichten über den politschen Kampf'. Neben der Schaffung eigener, nach Möglichkeit immer anspruchsvoller werdender Fotos und Bild-Text-Zyklen, die in Ausstellungen und die verbandseigene Zeitschrift einfließen, weitet sich Arbeiterfotografie mit der Zeit zum kritischen Forum stetig und selbstbewußt aus. Analytische Fundierung ist unerläßlich, aktive Medienkritik nimmt einen wachsenden Stellenwert ein. Ein Beispiel: Da gibt es Fotos, die greifen Dir ans Herz, die sind soo 'gut', alles stimmt: Botschaft und Bildaufbau, Konzentration auf den entscheidenden Augenblick. Armes Flüchtlingselend... Wenn das k e i n Antikriegsfotograf ist, der die Menschen als Opfer in sein Bild rückt. Wenn das kein parteilicher Fotograf ist. Könnte die Arbeiterfotografie sich nicht glücklich schätzen, einen solchen Meisterfotografen in ihren Reihen zu wissen. Partei ergreifend ist er in der Tat - Partei ergreifend aber für was und für wen. Die Kritik der Arbeiterfotografie an einem so genannten Antikriegsfotografen, dem mit Auszeichnungen überschütteten US-Amerikaner James Nachtwey beispielsweise, rief weithin - bis in die eigenen Reihen - heftigen Widerspruch hervor. Was hatten wir zu sagen gewagt? 'Nicht die einzelnen Fotos sind das Problem, sondern die Tatsache, was er fotografiert und was nicht. Beispiel Afghanistan 2001: die Opfer des von den USA geführten Krieges gibt es nicht. Beispiel Jugoslawien 1999: die Opfer des von der Nato geführten Krieges gibt es nicht. Leid wird immer von den anderen verursacht. Nato und USA, das sog. westliche Bündnis als Leid- und Kriegsverursacher gibt es für Nachtwey nicht. Hinter dem Mantel des Anti-Kriegsfotografen versteckt sich die Ideologie der Herrschenden und des von ihnen gesteuerten Mainstreams. ... Ende 2003 hat Nachtwey seinen Anti-Kriegsmantel vollends abgelegt und offenbart sich als Propagandist des als 'Krieg gegen den Terror' getarnten globalen US-Eroberungsfeldzuges. Auf der Titelseite des Time-Magazins vom 29.12.2003 präsentiert er US-Soldaten, die sich an dem völkerrechtswidrigen Raubüberfall auf den Irak beteiligen, als Helden. Sie werden dort als 'Person of the Year' verherrlicht. Nachtwey stellt sich auf die Seite der Macht, er lenkt den Blick in die von seinen Auftraggebern gewünschte Richtung. Und das macht er gekonnt. Er wird zur Leni Riefenstahl des US-Imperiums.' 2) „Wer eigentlich sind Sie, daß Sie sich ohne konkreten Vorwurf erheben. Sie 'argmentieren' mit Müll.“ Wütend reagiert Stephan Seeger, Direktor Stiftungen der Sparkasse Leipzig, die am 28.4.2004 James Nachtwey in Leipzig mit dem 'Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien' auszeichnen. Den 'konkreten Vorwurf' hat Herr Seeger einfach nur übersehen - oder nicht verstanden? Der Schauspieler Rolf Becker wertet unseren Widerspruch wie folgt: „ ...ein notwendiger Beitrag zur Ideologiekritik“ „Wer eigentlich sind sie,“ die im Bundesverband Arbeiterfotografie Zusammengeschlossenen, was eigentlich treiben sie, außer sich selbst in Fotografie zu ertüchtigen und hierin möglichst ausschließlich in Fotografie der Arbeitswelt? „Mir ist unverständlich, wie sie unter dem gewählten, alten Projekttitel (Arbeiterfotografie, d.V.) ein halbes Heft (der Zeitschrift, d.V.) verstiegenen Verschwörungstheorien (Hintergründe 9/11, d.V.) diverser Authisten widmen können. Was hat das mit Ihrem Thema zu tun. Fällt Ihnen sonst nichts Besseres ein?“, ereifert sich ein Kritiker aus Norddeutschland, Journalist, wie er angibt. Deshalb hätte er eigentlich wissen müssen: Arbeiterfotografie seit ihren Anfängen ist Gegenposition, Information und Aufklärung mit überwiegend bildnerischen Mitteln, verstärkt in neuester Zeit zunehmend mit den Mitteln der Medienkritik. Der Kritik der interessengelenkten Verdummungsmaschinerie muß heute wie in den Anfängen der Arbeiterfotografie große Bedeutung beigemessen werden, wenn man bei intensiverer Beschäftigung mit der Materie erkennt, wie gewaltsam, allgegenwärtig penetrant und perfide die gegnerischen Methoden sind. „Bild“ und „Bertelsmann“ galt es schon immer etwas entgegenzusetzen - Methoden zu durchleuchten, und jetzt erst recht, wo sich die Medienlandschaft verdichtet, Pressefreiheit und Pressevielfalt immer fragwürdiger werden, wo die Beziehungen von Presse und Politik immer offensichtlicher werden . Von der „Auslieferung des Denkens an das Kapital“, schreibt der Arbeiterfotograf und Ökonom Hans-Dieter Hey in der 'Neuen Rheinischen Zeitung'. 3) Die 'Täuschung besteht im Verschweigen der Wirklichkeit' (Parallelität: Nachtwey, siehe oben!, bei Aristoteles schon nachzulesen). Um die 'feindliche Übernahme unserer Köpfe' zu behindern, bedarf es der Aufklärung über die Hintergründe. „'Es geht uns darum, Deutschland, den Adler, zurzeit eine gebeutelte, gefesselte Kreatur, zu befreien, zu entfesseln, damit er wieder fliegen kann', so BDI-Präsident Rogowski auf dem Kongress des Bundesverbandes der Industrie im September 2003. Die dort verabschiedete Kampfschrift 'Für ein attraktives Deutschland, Freiheit wagen - Fesseln sprengen', war bereits im Januar 2003 mit Bundeskanzler Schröder erörtert worden. Sie lag der Agenda 2010 zugrunde. ...Das bedeutet für uns: Wir sind so eindeutig wie noch nie zuvor aufgerufen, die tatsächlichen Zusammenhänge darzustellen, sie zu erkennen, zu verbreiten und miteinander zu diskutieren, um solidarisch Widerstand zu leisten und unsere Alternativen zu entwickeln. ...Diese Ausstellung ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie so etwas angefangen und gemacht werden kann.“ Constanze Lindemann, Leiterin der Mediengalerie in Berlin, brachte im Januar 2005 in ihrer Eröffnungsrede anläßlich der Arbeiterfotografie-Präsentation 'Rettet den Reichtum - die Politik des globalen Kapitals und der Widerstand dagegen', die Zielrichtung auf den Punkt. Die bildhafte Umsetzung kritischer Sachverhalte kommt vielfach nicht ohne Text aus - darum also geht Arbeiterfotografie oft den Weg der Montage, entledigt sich gelegentlich formaler Zwänge hinsichtlich der puren Bindung an 'pure' Fotografie und vorgeschriebener thematischer Fixiertheit. Arbeiterfotografie ist nicht mehr allein Bildzulieferin sondern längst selbständig als Denk- und Werbe-, Bild- und Textfabrikantin - analytisch, kritisch. Arbeiterfotografie hat die Zeichen und Möglichkeiten der Zeit erkannt und nutzt die neuen medialen Produktionsmittel weitgehend - wenn auch noch nicht erschöpfend intermedial (Bild & Ton, broad- and podcasting sollten noch folgen). Auf vielen Ebenen der Zusammenarbeit mit Interessenten werden die Beziehungen stärker vernetzt: zu KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, PhilosophInnen, JournalistInnen, website-BetreiberInnen, kritischen Presseorganen, Bildungseinrichtungen und Ausstellungsorten. Eine Teilnahme am Kirchentag gehört so selbstverständlich dazu wie die Teilnahme am Pressefest der UZ 'Unsere Zeit', Zeitung der DKP. Von der langjährigen Teilnahme bei Kultur- und Kunstveranstaltungen wie der 'Internationalen Photoszene Köln' und an der erstmaligen Beteiligung an der Industriemesse 'photokina' im Bereich der kreativen ProduzentInnen erwarten wir kritische Resonanz. Quellen: 1) Hermann Leupold in: 'Der Arbeiterfotograf', Ausgabe 11/1931, Das Bild - Eine Waffe im Klassenkampf 2) Artikel erschien (in leichten Abwandlungen) bisher insgesamt in folgenden Publikationen: Ossietzky (21.2.04), UZ (27.2.04), SoZ (März 04), Leipzigs Neue (14.5.04, anläßlich der Preisverleihung an Nachtwey und der daran anschließenden Ausstellung in Leipzig) und in M, dem Medienmagazin von ver.di (Mai 2004, Titel: „Verstellter Blick - Kritische Sicht auf den 'berühmtesten Kriegsfotografen unserer Zeit, '“als Reaktion auf einen unkritischen Artikel in der April-Ausgabe anläßlich der bevorstehenden Preisverleihung) 3) Neue Rheinische Zeitung, nrhz.de, flyer Nr. 27; SoZ Ausgabe 2/2006 |